Mittwoch, 4. April 2018

Erste Story: Meine lächerliche Jagd ohne Flimmern

"Nun komm schon mit! Das wird dich ein wenig ablenken." 

"Ich will aber gar nicht abgelenkt werden." 
"Willst du lieber in deiner dunklen Kabine hocken und Trübsal blasen?" Hank sah mich mit einem Blick an, der energisch fragte: "Hä? Hä? Hä?" 
Ich schwieg. An meinem kleinen Fenster zog der Eskimonebel vorüber, während sich die Raumstation unaufhörlich um die eigene Achse drehte.  
"Jaro?"  
"Dann komme ich eben zu dieser dämlichen Jagd mit." 
"Na bitte! Du wirst es nicht bereuen. Ich hole dich in zwei Stunden ab." Bevor Hank meine Kabine verließ zwinkerte er mir noch einmal zu. 
Was sie neuerdings alle an dieser digitalen Treibjagd fanden, war mir schleierhaft. Durch das Holographic Deck zu rennen, während man mit seiner Fakewaffe auf künstlich erzeugte Beutetiere schoss, erschien mir kein spaßiger Zeitvertreib zu sein. Außerdem musste mein Gedicht für Liselle fertig werden. 
 
Tränen rinnen auf das Deck 
Putzroboter putzt sie weg 
Dabei vergoss ich sie für dich 
Roboter interessiert das nicht 
Es blieb nichts hier 
Nur ein Hologramm von dir 
Spiegelt sich in neuer Tränenpfütze 
Sie schimmert grün, wie Entengrütze 
 
War das zu profan? Entengrütze?  
"Gedicht löschen!" Die Projektion löste sich in Wohlgefallen auf. 
"Dämliches Gedicht, dämliche Liebe." Bockig verschränkte ich die Arme. 
Wasat zog vorbei. Die Sterne hatten es gut. Sie mussten sich nicht mit undurchsichtigen Dingen, wie der Liebe, beschäftigen. Auch nicht mit gespielten Treibjagten. Dämliche Liebe, dämliche Treibjagd! 



 
Natürlich hielt Hank Wort. Exakt nach zwei Stunden stand er vor meiner Kabinentür. "Na, bereit?" 
"Pff!", erwiderte ich und drängte ihn grob zur Seite. "Na los, bringen wir's hinter uns." 
"Lauf nicht so schnell. Du brauchst die Energie gleich noch." 
"Sagt wer?" 
"Vergiss es. Lilo und Milo sind auch dabei." 
Beinahe wäre mir schon wieder ein "Pff" entfleucht. Diese beiden Streber. Zwillinge, wie sie schlimmer nicht sein konnten. Kreiste die Raumstation deshalb seit Ewigkeiten durch das Sternbild Gemini?  
"Hallo!" 
Oh nein, da standen sie schon grinsend vorm Eingang des Holographic Decks.  
"Hallo", murrte ich. 
"Hallo!" 
"Hallo!" 
"Wir haben es verstanden!", fuhr ich zwischen die nervtötende Begrüßerei. 
"Heieiei … da hat wohl jemand wieder einen Korb von Liselle bekommen", schlussfolgerte Milo dummerweise richtig. 
"Können wir dann?", drängte ich. 
Hank hatte die Zugangskarte. Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür zum Vorraum.  
"Hey, da seid ihr ja", begrüßte uns der alte Skiffie 
Neben ihm dackelte ein Service-Roboter her, auf dessen Ablagefläche sich die Waffen befanden. Mattschwarz und formschön, wie sie auch die Erkundungstrupps trugen. Skiffie gab sie uns der Reihe nach. Jedem einzelnen gab er die Worte "schön vorsichtig" mit auf den Weg.  
Im vergangenen Jahr wurden alle mit dieser Art Handwaffen vertraut gemacht. Es war unumgänglich sich damit auszukennen. Der Besuch von Deck 27, dem Walddeck, war einmal wöchentlich Pflicht. Frische Luft, Bewegung sowie Survivaltraining. Das leuchtete mir auch ein. Sollten wir in absehbarer Zeit einen einigermaßen bewohnbaren Planeten oder Mond finden, mussten wir gesund und vorbereitet sein. Aber das hier … das war einfach nur ein Ballerspiel. 
"Welches Szenario wollt ihr denn haben?" Skiffie ließ seinen Finger über dem Steuerpult kreisen. "Waldrand, Steppe, Ruinen …" 
"Ruinen!", schrien Hank und Milo. 
"Mir egal", sagte Lilo, während sie schon Trockenübungen mit der Waffe machte. 
"Mir erstrecht", ergänzte ich. 
"Na schön. Also Ruinen. Viel Spaß!"  
Als wir das Holographic Deck betraten, sah es aus, wie die alten Aufzeichnungen der letzten Tage der Erde. Rußige Steinruinen ragten qualmend gegen einen rotglühenden Himmel. Die Straßen waren gepflastert von Trümmern und Tierkadavern. Dazwischen ein paar abgetrennte menschliche Gliedmaßen. 
"Widerlich!" 
"Spielverderber", entgegnete mir Hank. "Jeder gegen jeden!" Und schon waren sie verschwunden. 
 
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich hier gegenseitig jagen wollten. Eine Treibjagd auf digitale Tiere wäre schlimm genug gewesen. Dass ich nun allein inmitten dieser blutrünstigen Irren stand, machte es nicht besser. Die Situation ließ sich nicht ändern und so suchte ich Schutz hinter einer relativ intakten Mauer. Ich hörte Schreie, wie Gebäude zusammenstürzten und wie sich die Feuersbrunst immer weiter wälzte. 
"Ich werde das einfach aussitzen", sagte ich zu mir selbst und betrachtete die Waffe, die wie ein verkohlter Chicorée mit Fingermulden aussah.  
Was wohl Liselle von dieser Aktion halten würde? Egal, sie mochte mich so oder so nicht. Stets lehnte sie mich eiskalt ab. Als wäre sie einer, dieser nervigen Androiden, die neuerdings verboten waren. 
Herumfliegende Steinbrocken rissen mich aus meinen Gedanken. Jemand schoss auf mich.  
"Jaro!", rief Hank. Er hockte ein paar Schritte von mir entfernt hinter einem Rinderkadaver und winkte mich zu sich heran.  
Mist! Jetzt war ich mittendrin. 
Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Drei, zwei, eins! Ich rannte zu ihm hinüber und hechtete mich hinter das tote Tier. Eine Sekunde später stieg Rauch aus dem leblosen Körper. Wir waren unter Beschuss. Nach ein paar Schuss begann der Kadaver zu flimmern und verschwand von der Bildfläche. 
"Verdammt! Die Zwillinge haben sich verbündet und es auf mich abgesehen." Hank fluchte weiter vor sich hin. Dann fuhr er hoch, feuerte eine Salve ab, um sich gleich darauf hinter eine Tonne zu ducken. 
"Hilf mir, Kumpel." Er nickte mir zu, wir katapultierten uns zeitgleich in die Höhe und …  
Ich sah, wie Lilo und Milo links von uns aus ihrem Versteck sprangen. Sie zielten auf Hank. Ohne zu zögern richtete ich meinen Chicorée gegen Milo, zielte und drückte ab. 
Es riss ihm den Arm nach hinten, ich schoss erneut, sein Kopf wurde zurückgeworfen und er fiel zu Boden. 
"Milo", schrie seine Schwester panisch, schmiss ihre Waffe von sich und kniete sich neben ihn. 
"Etwas sehr theatralisch", kommentierte ich. Tatsächlich hatte mir die vermeintliche Rettung Hanks und mehr noch das Erlegen des potentiellen Feindes einen Kick gegeben. Seit Tagen fühlte ich mich das erste Mal wieder gut.  
"Helft uns! Er blutet!" 
Hank und ich sahen uns an. Wir dachten beide dasselbe: Na klar! 
Lilos Hilferufe wurden immer hysterischer.  
"Sollten wir doch mal hinschauen?" Hanks Euphorie wich einem besorgten Blick. 
Auch wir ließen die Waffen fallen und rannten zu Milo. Er blutete tatsächlich an Schulter und Kinn.  
"Deine beschissene Waffe war scharf!", schrie Lilo mich an. 
"I... ich …" Mehr als Gestammel kam nicht.  
"Nun mal langsam, Freunde. Skiffie hat uns die Waffen gegeben. Das sind Übungsteile. Damit kann man nicht …" 
"Sag mir nicht, was man nicht kann! Mein Bruder ist verletzt!" 
"Ich hol Skiffie", schlug ich vor und schon entzog ich mich der bizarren Situation.  
Warum hätte mir der Alte eine echte Waffe unterjubeln sollen? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. 
"Skiffie! Schalt das Hologramm ab! Schnell, Milo ist verletzt!" 
Augenblicklich verschwanden die Ruinen. Ich stand wieder in einem schmucklosen Zimmer mit grauen Wänden. Die Tür zum Vorraum blieb jedoch verschlossen. 
"Skiffie?"  
Alles blieb, wie es ist. 
"Skiffie!" 
Meine Fäuste flogen zunächst ins Leere, als ich versuchte gegen die Tür zu hämmern. Stattdessen trafen sie die uniformierte Brust eines Wachmanns. 
"Gut, dass sie da sind. Milo ist …" 
Sie legten mir Handfesseln an und führten mich ab. 
"Sie müssen Hilfe schicken! Milo ist verletzt! Wo ist Skiffie?" 
"Wir mussten ihn abschalten." 
"Skiffie?" 
"Alle Androiden werden aussortiert. Du siehst ja selbst, was passiert ist." 
"Aber …" 
Sie schleusten mich stur durch ein Labyrinth von Gängen, bis wir schließlich in einer Sackgasse endeten. Schmucklose graue Wände prangten mir entgegen. 
"Da rein!", befahl einer der beiden und deutete auf die vor mir liegende Wand. 
"Aber ich konnte doch nicht wissen, dass ..." 
"Rein!" Eine Tür öffnete sich.  
"Bitte kümmern Sie sich um Milo!" 
Sie packten mich am Kragen und warfen mich in die kleine Kammer. Mit der niederfahrenden Tür kam die Dunkelheit. Mit der Dunkelheit, die Einsamkeit. Was gäbe ich darum, mit einem schwarzen Chicorée bewaffnet durch das Holographic Deck rennen zu können. 
 
Tränen rinnen auf das Deck 
Putzroboter putzt sie weg 
Dabei vergoss ich sie für dich 
Denn als ich schoss, flimmertest du nicht

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