Montag, 11. Juni 2018

Dritte Story: Eine lockere Nebensache

Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Hannes war noch nie der Letzte gewesen und nun so etwas. Selbst der kleine Bruno war schneller als er und sonst war Bruno bei allem der Letzte.  
Hannes wollte ja gar nicht der Erste sein, aber Allerletzter? So etwas Doofes. Dabei zog und rüttelte er; er drehte und schob. Aber nichts passierte.  
Seit er letztes Wochenende bemerkt hatte, dass einer seiner unteren Schneidezähne wackelte, war er ausschließlich darum bemüht, ihn auch möglichst schnell zu verlieren.  
Verlieren … haha! Verloren hatte er ja nun schon. Alle hatten schon eine Zahnlücke oder sogar schon Schulzähne. Nur er noch nicht. Und zu allem Überfluss hörte ihm auch keiner zu. Seit fast einer Woche rackerte sich Hannes ab, allen die große Neuigkeit zu verkünden, dass er einen Wackelzahn habe. 
Doch aufgeben wollte er nicht. Fest entschlossen, seinen Zahn noch in dieser Woche zu verlieren, stapfte er aus seinem Zimmer in die Küche.






"Mama, schau mal!" 
"Sehr schön Schatz, aber Mama hat hier wirklich mit diesem Kuchen zu tun. Ich muss aufpassen, dass er nicht verbrennt, weißt du?" 
Hannes' Mama blickte starr durch die Scheibe des Backofens, bevor sie sich wieder an den Küchentisch setzte und mit dem Finger über ihr Smartphone wischte. 
Grummelnd verschwand Hannes aus der Küche. Sein Blick fiel auf die angelehnte Tür seines Nachbarzimmers. An der Klinke hing ein Schild, auf dem mit großen roten Buchstaben etwas geschrieben stand. Hannes konnte aber noch nicht lesen. Das "H", das "N" und das "E" kannte er schon aus seinem Namen. Der Rest war für ihn nur die Schmiererei seiner großen Schwester.  
"Du, Lilly!", platzte Hannes ins Zimmer. 
"Raus, hier! Kannst du nicht lesen?", schrie ihn seine Schwester an und klappte hektisch ein kleines rosafarbenes Buch zu. 
"Nein", antwortete Hannes. "Aber Lilly, du musst dir das mal anschauen." 
"Ich muss gar nichts und jetzt raus!" Seine Schwester stand auf und schob ihn unsanft nach draußen. 
Weshalb wollte ihm niemand zuhören? Hannes wurde immer wütender. Er sah sich um. Gab es hier irgendwas, das er runterschmeißen, zerreißen und kaputtschlagen konnte? 
Da hörte er den Schlüssel in der Haustür. "Papa!" Er rannte seinem Vater entgegen und sprang ihn freudestrahlend an. 
"Nanana …! Immer langsam Sportsfreund." Papa umarmte ihn, hob ihn hoch und wuschelte ihm durchs Haar.  
"Papa, schau mal!" 
"Gleich, Hannes. Ich hatte einen langen Arbeitstag und will mal kurz die Beine hochlegen." 
"Aber …" begann Hannes zu entgegnen. Dann ließ er es doch und trottete traurig nach draußen in den Garten. Die dicke Nachbarskatze schlich vorbei. Schneeball hatten Lily und Hannes sie getauft, obwohl sie nicht ganz we war. Auf dem Kopf hatte sie einen dunklen Fleck, der wie eine Schmalzlocke aussah. Deshalb nannte Papa sie immer Elvis. 
"Willst du dir meinen Wackelzahn ansehen, Schneeball?" 
Doch Schneeball verschwand leise im Gebüsch neben dem Gartentor. 
"Schneeball, warte!", rief Hannes und rannte der Katze hinterher. Mit einem gekonnten Hechtsprung schoss er mit dem Kopf voran ins Gestrüpp. Es pikste ein bisschen. Natürlich war Schneeball verschwunden, aber dennoch entdeckte Hannes etwas Interessantes. Hier war ein Loch im Zaun. Er konnte einfach hindurchkriechen. Er blickte zum Haus zurück. Nichts regte sich. Wahrscheinlich hockte Mama immer noch mit dem Smartphone vor dem Ofen, Lilly krakelte in ihr doofes Buch und Papa grunzte gemütlich auf der Couch vor sich hin. Oma hätte ihm sicher zugehört, aber die war nicht da. Ob sie wohl auf Arbeit war? Hannes war schon oft dort gewesen. Er wusste, dass man mit der Straßenbahn dorthin fahren konnte und er wusste, wo die Straßenbahnhaltestelle war. Keine fünf Minuten von hier 
"Das merken die sowieso nicht", sprach er sich Mut zu und schlüpfte durch das Loch im Zaun auf die Straße. "Hm …", machte Hannes nachdenklich während er sich nach allen Seiten umblickte. Von der Rückseite des Hauses war er noch nie zur Haltestelle gegangen. Sollte er jemanden nach dem Weg fragen? Mama und Papa hatten ihm eingebläut, niemals mit Fremden zu sprechen. Aber das war doch ein Notfall. Wie sollte er sonst zu Oma kommen? 
Hannes lief einfach ums Haus herum, wie er es schon ein paarmal mit Papa und Lilly gemacht hatte, wenn sie vom Vorgarten in den eigentlichen Garten wollten. Nur umgekehrt. Jetzt stand er also vor dem Haus. Noch immer hörte oder sah er nichts von seiner Familie. Also beschloss er zur Haltestelle zu gehen.  
Wenigstens seinen Teddy hätte er mitnehmen sollen. Oder seinen neuen Traktor von Onkel Freddy. Irgendetwas, an dem er sich hätte festhalten können. Es war nicht mehr zu ändern. Er lief die leichte Steigung durch die zwei Nebenstraßen bis er zu den Gleisen kam. Auf welche Seite der Haltestelle musste er sich stellen, wenn er in die Stadt wollte? Plötzlich schoss eine Bahn an ihm vorbei. Hannes machte einen erschrockenen Satz zurück. In dem Schild der Bahn leuchtete ein Flugzeug. Hannes wusste, dass es das Zeichen für den Flughafen war und der war nicht in der Stadt. Also musste er auf die andere Seite. 
Dort angekommen sah er hinauf zur Anzeigetafel. Er kannte schon die Zahlen. Dort stand eine Vier, aber wie lange war das? 
"Na, Junger Mann. Was machst du denn so alleine hier?", fragte eine ältere Dame. 
"Ich darf nicht mit dir reden." 
"Das ist richtig. Mit Fremden darf man nicht reden. Aber in deinem Alter darf man auch nicht alleine mit der Bahn in die Stadt fahren. Wo möchtest du denn hin?" 
Die Frau schien wirklich sehr nett zu sein. Sie erinnerte Hannes an seine Uroma, die sie nur selten sahen, aber die immer tolle Geschenke mitbrachte. Außerdem fragte Uroma Lilly und ihn immer ganz viel. Sie hörte ihnen zu. 
"Bist du auch eine Uroma?", fragte Hannes schließlich. 
"Stimmt. Woher weißt du das? Sogar zweimal." 
"Habe ich geraten. Guck mal …" Hannes wackelte mit dem Zeigefinger an seinem Zahn. 
"Das ist ja toll! Dann kommst du bestimmt auch bald in die Schule." 
"Genau." Hannes strahlte über das ganze Gesicht. 
"Aber nun sag mir mal, wo du wirklich hingehörst." 
"Na zu Oma Anna. Die arbeitet in der Stadt, in dem großen Haus neben dem Tunnel." 
"Weißt du denn, wie du dorthin kommst?" 
"Mit der Bahn." 
"Ich meine, ob du weißt, wo du aussteigen musst?" 
Hannes überlegte. "Dort, wo sich die ganzen Schienen treffen." 
"Und wo wohnst du?" 
Die Bahn kam. Sie rollte den Berg hinab und hielt quietschend vor Hannes und der älteren Dame. 
Sie stiegen ein und setzten sich nebeneinander. Als die Straßenbahn wieder losfuhr, fragte die Frau erneut: "Wo wohnst du denn nun?" 
"Verrate ich nicht. Ich will jetzt zu Oma!" Hannes hatte keine Lust mehr, sich zu unterhalten. Er verschränkte die Arme und setzte sein grimmigstes Schmollgesicht auf. 
"Na gut. Vielleicht zeigst du mir, wo deine Oma arbeitet, damit ich dich noch hinbringen kann." 
Hannes schwieg.  
Die Bahn rumpelte durch die Häuserschluchten. Vorbei am Park mit dem tollen Spielplatz und dann am Dom entlang, bevor sie endgültig in die Innenstadt abbog. Hier musste es irgendwo sein. Tatsächlich! Hannes erkannte das Haus, in dem seine Oma arbeitete, aber die Bahn fuhr einfach daran vorbei. Jetzt musste er beim nächsten Halt aussteigen und bloß noch zurücklaufen.  
Mit einem heftigen Ruck kam die Straßenbahn zum Stehen. Hannes wäre fast vom Sitz gefallen. Hier stiegen wirklich viele Leute aus. Die ältere Frau stand direkt hinter ihm. Als sich die Türen öffneten, rannte Hannes los. Immer in Richtung des Gebäudes, in dem seine Oma arbeitete. Es war gar nicht so weit. Die alte Dame hatte er sicher abgehängt. Jetzt konnte er schon den Tunnel sehen, durch den man zum Eingang des Hauses kam. Kurz drauf lief er hindurch. 
Schnaufend blieb er vor der Tür stehen. Sie war zu. Hannes wusste noch, dass Mama immer klingelte, wenn sie zu ihrer Mama, das war seine Oma, wollte. Aber welcher Klingelknopf war der richtige? Wenn Hannes doch nur schon lesen könnte, aber ihm fehlte ja noch nicht mal ein Zahn. 
Kurzentschlossen drückte er wild auf alle Klingeln gleichzeitig. Zunächst passierte nichts. Dann öffnete sich tatsächlich die Tür und ein glatzköpfiger Mann mit dickem Bauch stand vor Hannes. 
"Huch. Was machst du denn hier? Bist du nicht der kleine Hannes, der Enkel von Anna?" 
Hannes nickte. "Ich will zu Oma." 
"Und wo sind deine Eltern?" 
"Zuhause." 
"Das ist jetzt wirklich dumm gelaufen, aber deine Oma war heute gar nicht hier. Sie hatte Auswärtstermine." 
Hannes spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Was sollte er jetzt tun? Ohne Teddy, Traktor oder die nette alte Dame. Vielleicht hätte er doch zu Hause bleiben sollen. Sicher hätte Mama bald Zeit für ihn gehabt und Papa auch. Vielleicht sogar Lilly. Und nun? 
"Na, wer wird denn gleich weinen? Komm erst mal rein. Wir trinken eine Limo und dann überlegen wir uns was." 
Hannes hatte ein bisschen Angst. Er kannte diesen Mann gar nicht, hatte ihn auch noch nie bei Oma auf Arbeit gesehen. Aber der Mann kannte Hannes und auch Oma Anna. Was blieb ihm anderes übrig? "Na gut …", schluchzte er und folgte dem Mann in das Haus. 

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