Montag, 30. April 2018

Zweite Story: Asynchrone Teufel der Ostfront

Es war einmal ein Kaiser, der hatte zwei Söhne. Sie waren sein ganzer Stolz, auch wenn ihm der Ältere weitaus mehr am Herzen lag, als der Jüngere. Beide dienten ihrem Vater so gut sie es vermochten. Unter ihm waren sie die mächtigsten und angesehensten Männer im Reich, doch genau dieses schien dem Kaiser nicht groß genug … 
 


 Hoch zu Pferde ließ Kamal seinen Blick über das Flussufer ins Unbekannte schweifen. Sein länger werdender Schatten kroch über die dichten Grasbüschel, während das Rauschen des Wassers seine hypnotische Wirkung entfaltete. 
Eine kleine Gestalt ritt auf einem nahezu ebenso kleinen Pony heran und stoppte neben ihm. "Wir haben Nachricht von eurem Bruder, Oberst." 
Er nickte, sah von seinem Ross auf den Winzling hinab und streckte ihm seinen Arm entgegen. 
"Bitte, Herr Oberst", säuselte dieser, stellte sich auf den Rücken des Ponys und übergab die Schriftrolle. 
Im schwindenden Licht überflog General Kamal die Worte seines Bruders. Verachtend zerriss er das Schriftstück. "Zuz, weshalb bringst du mir so etwas?" 
"Oberst, es war ein Befehl, die Nachricht zu überbringen. Ich diene gehorsam, wie ihr wisst." 
"Natürlich. Du kannst Befehle nicht verweigern. Schon gar nicht, wenn sie vom General höchstpersönlich stammen. Vom beliebteren, erfolgreicheren und dem allseits hochgeschätzten General Amal. Verteidiger der freien Welt, Vorreiter der Westfront-Erweiterungen. Ja, der Westen. Ländereien voller Überfluss, Reichtum, Prestige. Ruhm und Ehre werden ihm zuteil, sollte er auch die letzten Barrieren überwinden können und diese neue Welt für den Kaiser erschließen. Oh und der Kaiser: Ein recht herrlich anmutender Geselle mit Hang zu Kitsch und Selbstverherrlichung ist unser Vater. Nicht minder sein Stab und in all diesem Glanz, mein Bruder, Retter der Kaiserfamilie. Und nun, Zuz, schau dich um. Was siehst du?" 
Der Winzling drehte seinen Kopf suchend nach allen Seiten. "Ich sehe den Strom und die Landschaft ringsherum, Oberst." 
"Siehst du den Überfluss, den Reichtum, das Prestige?" 
"Nein, Oberst. Davon kann ich nichts erkennen." 
"Richtig, Zuz! Wir kämpfen an der Ostfront für dieselbe Sache, doch interessiert es niemanden. Keiner wird uns am Hofe mit Glanz und Gloria empfangen, sollten wir je zurückkehren. Keiner wird unsere Namen in die Heldentafel meißeln und dennoch sind wir hier. Wir sind hier, weil all die unentdeckten Länder darauf warten, aus ihrem Schlaf geweckt zu werden und ich werde derjenige sein, der ihm die Geheimnisse entlockt." 
Kamal machte eine Pause, doch Zuz wagte nicht zu sprechen. Viel zu oft hatte er die Predigten des Oberst schon mit anhören müssen. Sollte er auch nur ein Wort dazu sagen, würde er ein neues Thema für eine weitere Klage anstoßen. 
"Hinter diesem Fluss liegt das Geheimnis", fuhr Kamal fort. 
"Welches Geheimnis, Oberst?" 
"Keiner von uns weiß, was sich hinter dieser natürlichen Grenze verbirgt. Was lauert hinter dem Horizont? Vielleicht ein lang ersehnter Frieden, vielleicht das Gegenteil. Amal schreibt von einem ähnlichen Scheideweg. Sie stehen kurz vor der Überschreitung der letzten Barriere. Was wird er finden? Ruhm und Ehre?" 
Der Oberst gab Zuz einen leichten Tritt 
"Oh, äh … ich weiß es nicht." 
"Ich hoffe doch ganz entschlossen, dass er scheitern wird", knurrte Kamal. "Bereitet das Lager! Bei Sonnenaufgang überqueren wir den Fluss." 
"Wie Ihr befehlt, Herr Oberst." 
 
Rotgolden begann der Horizont zu glühen. Oberst Kamal schlug die Zeltwand zur Seite. Seine Männer waren nicht untätig gewesen. Einige hatten die ganze Nacht damit verbracht eine Brücke zu zimmern. Obwohl sie die schmalste Stelle des Flusses, gerade zwei Pferdelängen, für die Errichtung gewählt hatten, war sie noch immer nicht fertig.  
"Zuz!" 
"Ja, Oberst?", rief es aus dem Nachbarzelt. Kurz darauf stolperte Zuz heraus. "Ihr wünscht?" 
"Mach diesen Nichtsnutzen Beine. Sobald sich die Sonne in voller Größe am Himmel zeigt, hat die Brücke fertig und die Pferde haben gesattelt zu sein." 
"Sehr wohl, Oberst." Zuz verbeugte sich und rannte zum Flussufer. 
Kamal kehrte zurück ins Zelt. "Man bringe mir den Leutnant!", befahl er seinen Bediensteten.  
Während Kamal sein spärliches Frühstück aus Wurzelknollen und Baumrinde, dem einzigen, was sie hier finden konnten, zu sich nahm, erschien Chewol. "Oberst?" 
"Leutnant Chewol. Ich habe angewiesen, die Brücke schnellstmöglich fertigzustellen. Sammelt euren Aufklärungstrupp und halten euch bereit. Ihr werdet die ersten sein, die das neue Land betreten. Ich möchte umgehend über jegliche Entdeckungen informiert werden. Völlig unerheblich, ob ihr sie für wichtig haltet. Ich denke, Ihr wisst, wie damit zu verfahren ist." 
Chewol berührte mit seiner gestreckten Hand die Stirn. "Jawohl, Oberst Kamal!" Dann trat er aus dem Zelt. 
Im selben Moment erschien Zuz. "Oberst, wir haben nicht genügend Holz", platzte er atemlos heraus. 
Kamal spürte die Wut in sich aufsteigen. So eine Ungeheuerlichkeit wäre seinem Bruder niemals passiert. "Zuz?", begann er in einem seltsam ruhigen Ton.  
"Bitte, Herr Oberst?" 
"Du bringst mir sofort den Verantwortlichen." 
"Aber, Oberst …" 
"Kein Wort, Zuz!", schrie Kamal. "Und … zerlegt die Lastenkutschen und Streitwagen. Die Brücke hat oberste Priorität!" 
"Sehr wohl." Der Winzling stürmte aus dem Zelt, um kurze Zeit später mit einem verängstigt dreinblickenden Mann zurückzukehren. 
"Name?" 
"Shulem, Oberst." 
"Shulem. Weshalb hattet ihr nicht ausreichend Holz für den Brückenbau?" 
"Herr Oberst, das karge Land hat kaum Baumbestände. Wir haben selbst die Wurzeln verwendet, um …" 
"Schweig! Ist es nicht so, dass sich die Arbeiter in der kühlen Nacht aufwärmen wollten?" 
"Nein, Oberst. Ich beteuere Euch, wir haben ausschließlich an der Fertigstellung gearbeitet." 
"Ein gewisser Restgeruch von verbranntem Holz lässt sich nicht verleugnen. Nicht wahr, Zuz?" 
"Oh … äh …" Zuz hatte nicht damit gerechnet, in das Gespräch mit eingebunden zu werden. "Ja, Herr Oberst. Ich meine, nein. Also …" 
"Siehst du, Shulem. Abführen!" 
"Oberst?", protestierte Zuz. Die flehend dreinschauenden Augen des Bautrupp-Führers sahen ihn an. 
"Dies ist ein Befehl!" Kamal musste um jeden Preis verhindern, dass sein Bruder der ewige Sieger bleiben würde. 
Zuz schluckte schwer. Er wusste nur zu gut, dass diese Entscheidung eine endgültige war. Sie bedeutete, dass es in wenigen Augenblicken einen Mann weniger in ihrem Heer geben würde. 
 
Es war fast Mittag, als Zuz mit der Nachricht der fertigen Brücke zu Oberst Kamal kam. Shulems Kopf war nicht der einzige, der für diesen Verzug hatte rollen müssen. 
Unverzüglich preschte Cholew mit seinem Aufklärungstrupp los, um die Gegend auf der gegenüberliegenden Flussseite zu erkunden. 
Im Lager herrschte Aufbruchsstimmung. Spätestens, wenn die Späher zurückkehrten, mussten sie bereit sein. Pferde wurden gesattelt, Rüstungen angelegt, Zelte abgebaut. Einigermaßen zufrieden ob der bevorstehenden großen Tat ritt Oberst Kamal durch die Reihen. Seinem geschulten Blick entging nichts. Die verrutschte Satteldecke ebenso wenig wie die nicht vollends geschärfte Klinge. 
Die Sonne berührte erneut den Horizont, als auch das letzte Pferd über die Brücke schritt. Die endlos scheinende Weite wurde von einem orangefarbenen Himmel begrenzt. Oberst Kamal ritt an der Spitze seiner Mannen, als ihm ein paar Umrisse in der Grasebene auffielen. Sie bewegten sich unregelmäßig und schienen schnell auf ihn zuzukommen. Er pfiff seine Leibgarde um sich, während er die Schemen nicht aus den Augen ließ. 
Allmählich konnte er Konturen erkennen. Es waren ebenfalls Reiter. Einer hielt eine Standarte. Rot, Blau und das silberne Schild … es war das kaiserliche Wappen. Wer waren diese Männer? 
Noch ehe Kamal auf eine schlüssige Antwort kommen konnte, hagelte es Pfeile. Einer seiner Leibwächter fiel getroffen vom Pferd. Ein Horn erschallte. Sie kannten das Signal. 
"Einkesseln!", schrie Oberst Kamal und seine Mannen preschten davon. Zahlenmäßig waren sie dem herannahenden Trupp weitaus überlegen. "Die Infanterie frontal in Phalanx-Formation!" 
Der Gleichschritt mehrerer hundert Soldaten wirbelte Staub zwischen den Grasinseln auf. Die feindlichen Reiter stoppten, als die Infanterie in deren Rufweite gelangte, während die berittenen Truppen den Feind umstellten. Die Geräusche verhallten. Alles stand still. 
Langsam ritt Oberst Kamal, gefolgt von Zuz, an der Phalanx vorbei. Er schätzte die Anzahl der feindlichen Männer auf drei Dutzend. Das konnten niemals alle sein. Eine Falle? 
Bei genauerer Betrachtung stutzte Kamal. Der Standartenträger war Amrito, aus dem Heer seines Bruders. 
"Offizier Amrito, wir hatten euch an der Westfront vermutet." 
Amrito blickte verwirrt um sich. "Und der General wähnte Euch an der Ostfront." 
"Ist er hier?" 
"General Amal?" 
Kamal nickte. 
"Da kommt er." 
Ein Speer schlug vor den Füßen von Kamals Pferd ein, das daraufhin stieg und den Oberst beinahe abwarf. Mühevoll beruhigte er seinen Hengst. "Was fällt euch ein?", schrie er Amrito an, der ebenso überrascht war und nur eine fragende Miene aufsetzte. 
"Macht Platz! Macht Platz!"  
Ehrfürchtig rückten die Reihen auseinander, um dem großen General nicht im Wege zu stehen. Stolz ritt er auf seinem prächtigen Ross seinem jüngeren Bruder entgegen, stoppte kurz vor ihm und musterte ihn abschätzig.  "Brüderlein … du hier?" 
"Dieselbe Frage könnte ich dir stellen." 
"Und? Tust du es auch oder redest du nur darüber?" 
Oberst Kamal verdrehte die Augen. 
"Brüderlein, du solltest an der Ostfront kämpfen. Dies war nicht nur ein Befehl von mir, dem General, sondern vom Kaiser höchstselbst."  
"Das ist die Ostfront, Amal." 
"Ist sie ganz offensichtlich nicht, denn wir überschritten vor drei Tagen die letzte Barriere der Westfront. Dieses Land gehört nun offiziell zum Kaiserreich und niemand wird mich an dieser Inanspruchnahme hindern!" 
"Amal, wir sind zum äußersten Ende der Ostfront vorgedrungen, haben den Flusslauf dort hinten überschritten und stehen uns nun gegenüber. Was also schließt du daraus?" 
Der General sah auf das ermattende Glitzern des Stroms. "Dass du ein elender Lügner bist, Kamal!" 
Augenblicklich bohrte sich eine Schwertklinge in die oberste Hautschicht von Amals Hals. "Hüte deine Zunge!", zischte Kamal. 
"Aber, Herr Oberst. Haltet Euch im Zaum", versuchte Zuz zu schlichten. 
"Halt dich da raus, Zwerg!", entgegnete der General zornig. 
"Es wäre klüger, wenn ihr Euch zurückziehen würdet, werter Bruder." Kamal steckte sein Schwert zurück in die Scheide. "Ich möchte es nicht so weit kommen lassen, doch wenn du darauf beharrst, dass dies der westlichste Punkt des Kaiserreichs ist und nicht der östlichste, so werden meine Männer euch lehren, wo Osten und wo Westen ist." 
"Das klingt, als wolltest du es unbedingt so weit kommen lassen und du wirst bitter bereuen, dass du diese Worte je ausgesprochen hast." General Amal kehrte zu seinem Heer zurück. 
"Wir werden sehen …", presste Kamal zwischen seinen Zähnen hervor und machte ebenfalls kehrt. 
 
Der daraufhin folgende Krieg ging als Zweifrontenkrieg, auch ewiger Bruderkrieg, in die Annalen des Kaiserreichs ein. Die dadurch verwüsteten Ländereien sind bis heute unbewohnbar. Kein Vogel singt, kein Fisch schwimmt, im westlichsten Osten, im östlichsten Westen, wo des Kaisers Niedergang besiegelt wurde. 
 
Es war einmal ein Kaiser, der hatte keine Söhne, aber einen Staat, der einmal rings um den Erdball reichte ... 

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